Abitur und Inklusion – mittendrin statt nur dabei?

Inklusion ist seit der Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention durch Deutschland im Jahr 2009 in aller Munde. Behinderte Kinder haben damit u.a. prinzipiell das

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Recht, anstatt einer Förderschule eine allgemeine Schule wie etwa eine Realschule oder ein Gymnasium zu besuchen.

Aber was hat etwa ein lernbehinderter Schüler auf einem höheren Schule verloren? Gymnasien gelten schließlich seit jeher als elitäre Schulform mit Leistungsprinzip, in denen leistungsschwächere Schüler oder Menschen mit Behinderung nichts zu suchen haben. Allerdings geht es bei Inklusion nicht um Leistung, sondern um das Recht zur Teilhabe am „normalen“ Leben. Und so haben viele der Inklusionsschüler nicht vordergründig das Ziel, einen Schulabschluss oder das Abitur zu erlangen. Und manchmal geht es auch einfach nur um wohnortnahes Lernen.

Von dieser Vorstellung des gemeinsamen Lernens sind allerdings nicht nur die Abiturienten selbst, sondern häufig auch die Schulleitungen, Lehrer und Eltern überfordert. Nicht umsonst wird nur in etwa 5 % aller Gymnasien inklusiv beschult. Inklusion rührt an den Grundfesten unserer Überzeugung und dem (bisherigen) Verständnis für Gleichberechtigung.

So schön, so gut. Aber kann Inklusion an Gymnasien überhaupt gelingen oder bleibt das Vorhaben in der Erprobungsphase stecken? Oder sind etwa Gymnasien durch ihr meist förderliches soziales Klima besonders prädestiniert für eine inklusive Beschulung?

Inklusion in der Bildung hautnah

Die Bundesländer versuchen zweifelsohne, die UN-Konvention auf dem Bildungssektor mit Leben zu erfüllen und damit zur Chancengleichheit beizutragen. Doch auch wenn Inklusion auf dem Papier für alle Schulformen gilt, stand dies bis dato in Gymnasien bisher gar nicht oder sehr zurückhaltend auf der Agenda. Keine Spur von Hurra-Stimmung, denn Schulen sind nicht darauf vorbereitet, Lehrer nicht dafür ausgebildet, Schulgebäude meist nicht tauglich, und Eltern lernstarker Schüler fürchten um den Notenschnitt ihrer Kinder. Hinzu kommt, dass sich neben fehlendem Geld für Fachkräfte und Ausstattung Experten und Praktiker noch darüber streiten, ob es Kindern mit Beeinträchtigungen auf einer Förderschule nicht doch besser gehen würde.

Aber sind wir doch mal ehrlich: An Gymnasien sind die Leistungsunterschiede auch ohne Inklusionsschüler bereits enorm. Taugt das noch als Aufreger? Im Gegenteil, denn immer mehr Kinder mit einem grenzwertigen Notenschnitt gehen heute, meist auf Drängen ihrer Eltern, das Gymnasium. Warum sollen dann Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischen Diagnosen in Förderschulen unter sich bleiben?

Aus den wenigen Studien zur inklusiven Beschulung lassen sich bisher lediglich zwei Aussagen ableiten: Die Leistungen von Förderschülern sind in Inklusionsklassen etwas besser und die der Regelschüler verschlechtern sich nicht. Ist das aber ausreichend für die Argumentation an Schulen, mit Eltern und Schülern, aber auch mit den Schulträgern?

Spagat zwischen Wollen und Können

Nach der (voreiligen?) Auflösung vieler Förderschulen sitzen heute in einigen Gymnasien Kinder und Jugendliche mit körperlichem Handicap, Verhaltensauffälligkeiten, Lernschwächen oder ADHS mit „Normalos“ nebeneinander. Während die Gymnasiasten zielgleich nach Lehrplan unterrichtet werden, lernen Inklusionsschüler zeitweise zieldifferent nach individuellen Förderplänen und mit Unterstützung zusätzlicher Sonderpädagogen. So der Wunsch.

Allerdings ist vieles davon noch Zukunftsvision. Wir sind noch weit davon entfernt, dass Schulen individuell unterrichten, Lehrer die Zeit und Ausbildung haben, um jedem Kind gerecht zu werden sowie ausreichend Heilerzieher, Sonderpädagogen, Sozialarbeiter und Psychologen inklusive Prozesse begleiten können. Machen wir uns nichts vor: Kinder sind nicht umsonst Förderschüler und mutieren nicht zum „guten Gymnasiasten“, nur weil wir es so wollen. Sie verbreiten Unruhe, sind sozial schwierig, spucken und toben, brauchen extra Erklärungen, individuelle Zuwendung, zusätzliche Motivation oder Bändigung.

Die Meinung der unmittelbar Beteiligten ist, wen wundert es, sehr kontrovers. Während die Lehrerschaft um ihren bisherigen „Besitzstand“ fürchtet, weil sich Berührungsängste auftürmen, Erfahrungen fehlen, der Unterricht differenzierter gestaltet werden muss, bisher kaum Lehrmaterialien vorhanden und deutlich mehr Vorbereitungsaufwand und Kreativität notwendig sind, argumentieren die Inklusionsbefürworter mit gleichberechtigtem Lernen, Kompetenztransfer und besonderen Entwicklungschancen für beide Seiten.

Inklusive Bildung als Gradmesser für das Schulsystem?

Einige Bildungsforscher sehen in Deutschlands gegliedertem Schulsystem den eigentlichen Hemmschuh für inklusive Bildung, weil die (frühzeitige) Selektion nach Notendurchschnitt, Förderbedarf, sozialer Herkunft oder Migrationshintergrund Schubladendenken und ungleiche Behandlung weiter befördert.

Im Umkehrschluss: Die Mehrzahl der Inklusionsverfechter befürworten eine längere gemeinsame Beschulung, so dass Berührungsängste nicht entstehen, sich soziale Kontakte unter den behinderten und nicht behinderten Schülern weiter verfestigen, Lernpatenschaften beibehalten, Lehrpläne weiter entwickelt und die zeitweise Begleitung durch Sonderpädagogen und Sozialarbeiter kontinuierlich fortgesetzt werden können.

Wenn wir diesen Faden weiter spinnen, dann können wir zu 99 % davon ausgehen, dass uns Inklusion in der Bildung, Einzelfälle ausgenommen, nicht sonderlich gut gelingen wird. Zu heterogen sind  aufgrund des Bildungsförderalismus die Schulstrukturen in den Bundesländern. Auch von einem längeren gemeinsamen Lernen sind wir mit Ausnahme der Ganztagesschulen ggf. mit gymnasialen Profil noch ein großes Stück entfernt.

Von der anderen Seite betrachtet: Ein längeres gemeinsames Lernen nagt an der Existenzberechtigung der Gymnasien. Welche Schulleiter, Lehrerschaft, Elternkonferenz und Schülervertretung lässt sich das schon einfach so gefallen?

Und Förderschulen? Werden auch zukünftig notwendig sein. Nicht jeder Schüler mit sonderpädagogischer Diagnose möchte oder kann aus seinen individuellen Gegebenheiten in allgemeinen Schulen unterrichtet werden. Zudem wollen oft auch die Eltern ihre Kinder vor einer inklusiven Beschulung „beschützen“ und ziehen die Förderschule vor.

FAZIT:

Inklusion erfordert zuerst gesellschaftliche Aufklärung und in allen Schulformen, Gymnasien inklusive, Willen und Überzeugung, kostet Zeit und Kraft, verlangt Fantasie, SP_logo16_FazitSpontanität und einen anderen Blickwinkel, aber auch die notwendige finanzielle Ausstattung, entsprechend ausgebildete Fachkräfte und feste, verlässliche Hilfen.

Inklusion ist ein langer Prozess und nur dann chancenreich, wenn Hau-Ruck-Aktionen wohl überlegten und zukunftsfähigen Konzepten und Strukturen weichen müssen.

 

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